Seit mehr als zwei Jahren trotzt die Ukraine der russischen Invasion und den vielen damit verbundenen Herausforderungen – auch im Energiesektor. Für diesen Newsletter sprachen wir mit unserer Kollegin Ievgeniia Kopytsia über die Auswirkungen des Krieges auf den Klimaschutz, die Ziele des Landes zur Dekarbonisierung des Energiesektors und die Zusammenarbeit zwischen IKEM und seinen ukrainischen Partnern.
Der ukrainische Energiesektor ist umfangreichen russischen Angriffen auf seine Infrastruktur ausgesetzt. Können Sie die aktuellen Herausforderungen beschreiben?
Anfang 2024 waren rund 85 Prozent der Wärmekraftwerke und 50 Prozent der Wasserkraftwerke beschädigt, was zu einem Verlust von etwa 8 GW an Erzeugungsleistung und zu materiellen Verlusten von über einer Milliarde US-Dollar führt. Das so entstandene Versorgungsdefizit führt zu Stromausfällen und beeinträchtigt die Heizungs- und Wasserversorgung von zwei Millionen Menschen. Trotz der Bemühungen zum Wiederaufbau und gesteigerter Importe aus der EU wird die Nachfrage, insbesondere in den östlichen Regionen, wahrscheinlich auch perspektivisch nicht vollständig gedeckt werden können – Millionen von Menschen sind von diesen Stromausfällen betroffen. Auch die ukrainischen Energiemärkte befinden sich in einer Krise: Schulden und Zahlungsausfälle in Höhe von mehr als 8 Milliarden US-Dollar führen zu einem erheblichen Liquiditätsengpass bei den Energieunternehmen.
Welche Maßnahmen werden in dieser Situation ergriffen?
Die unmittelbare Priorität ist die Stabilisierung des Sektors und die Wiederherstellung der Infrastruktur. Für die östlichen Regionen könnte die Installation kleiner Gaskraftwerken und -generatoren eine kurzfristige Lösung sein. Inbetriebnahme größerer Erzeugungskapazitäten ist für die kommenden Monate eher ungewiss. Gleichzeitig konzentriert sich die Ukraine weiterhin auf die Dekarbonisierung ihres Energiesystems und die Anpassung ihrer Gesetze an europäische Richtlinien.
Das Pariser Klimaabkommen gilt als ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu mehr Klimaschutz. Welche Maßnahmen hat die Ukraine ergriffen, um ihre nationalen Ziele zu verwirklichen?
Die Ukraine hat als eines der ersten europäischen Länder das Pariser Abkommen ratifiziert und sich verpflichtet, bis 2030 nicht mehr als 60 % der Treibhausgasemissionen von 1990 zu verursachen. Trotz des andauernden Krieges hat die Ukraine stets ein starkes Engagement für die Ziele von Paris gezeigt. Die Regierung legte bereits 2022 einen Plan für einen umweltfreundlichen, kohlenstoffarmen Wiederaufbau vor, der mit dem Pariser Abkommen in Einklang stehen soll. Die Energiestrategie 2050 der Ukraine sieht einen kohlenstoffneutralen Energiesektor bis 2050 vor. Auf der COP28 bekräftigte die Ukraine ihre Verpflichtung, Netto-Null-Emissionen zu erreichen, bis 2035 aus der Kohle auszusteigen und die globalen Ziele für erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu unterstützen.
Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die globalen Klimaziele?
Bis September 2023 beliefen sich die direkt mit dem Einmarsch Russlands verbundenen Emissionen auf 150 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. Weltweit hat der Krieg zu einer erneuten Konzentration auf die Energieunabhängigkeit geführt. Das verleitet einige Länder dazu Maßnahmen zut Reduzierung von Treibhausgasemissionen hinauszuzögern. Beispiele für neue fossile Projekte sind die Erweiterung der Trans Mountain-Pipeline in Kanada, die Steigerung der Ölproduktion in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die neuen Kohleminen in Australien und die Förderung der Öl- und Gasexploration im Amazonasgebiet durch Brasilien. Aber wir haben auch vielversprechende Auswirkungen gesehen: Entgegen den ursprünglichen Erwartungen hat der Krieg die Umstellung Europas auf erneuerbare Energien beschleunigt. Internationale Foren und Organisationen setzen sich dafür ein, dass die Klimaziele inmitten der Krise weiter verfolgt werden. Auf der COP28 wurde zum Beispiel die Beziehung zwischen Klima, Frieden und Sicherheit hervorgehoben.
In der Ukraine behindert die weitgehende Zerstörung der Energieinfrastruktur den Übergang zu einem dekarbonisierten Energiesystem und vergrößert aufgrund des Wiederaufbaubedarfs den CO2-Fußabdruck des Landes. Die Ukraine will jedoch den Wiederaufbau nach dem Krieg als Chance nutzen, um sich den Pariser Zielen anzunähern und ein Modell für eine grüne Transformation zu werden.
Welche Rolle spielen dabei die internationalen Kooperationen?
Die Ukraine hat bereits ein hohes Maß an globaler Solidarität erfahren, wird aber auch weiterhin auf internationale Unterstützung und Hilfe angewiesen sein. Es ist daher erfreulich, dass mehrere internationale Organisationen Projekte zur Unterstützung des Energiesektors und der Klimaziele der Ukraine ins Leben gerufen haben. Dazu gehören das „Resilience and Reconstruction Framework“ der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Höhe von einer Milliarde Euro, das 500-Millionen-Dollar-Paket der Internationalen Finanz-Corporation, das 20-Millionen-Dollar-Projekt der Globalen Umweltfazilität und das „Ukraine Green Recovery Programme“ des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Diese Initiativen bieten finanzielle Unterstützung, technisches Fachwissen und politische Beratung, um die Ukraine beim Wiederaufbau zu unterstützen.
Wie trägt die IKEM zu den Bemühungen der Ukraine bei?
Das IKEM unterstützt den Übergang der Ukraine zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft seit 2021, als das IKEM eine Partnerschaft mit der Yaroslav Mudryi National Law University einging. Im Oktober 2023 riefen das IKEM und seine Partner den Europe-Ukraine Energy Transition Hub ins Leben und legten eine Roadmap für die Energiewende in der Ukraine vor.
Im Juni werden wir im Vorfeld der Ukraine Recovery Conference in Berlin eine Veranstaltung mit hochrangigen Vertreter:innen zum ukrainischen Energiesektor ausrichten. Und wir werden eng mit dem Ministerium für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der Ukraine zusammenarbeiten, etwa indem wir die ukrainischen Delegationen bei den diesjährigen internationalen Klimakonferenzen in Bonn und Baku unterstützen.