Autonomes Fahren ist eine Schlüsseltechnologie für die zukünftige Mobilität. Vor dem Einsatz fahrerloser Fahrzeuge im Alltag sind jedoch noch zahlreiche rechtliche und gesellschaftliche Fragen zu lösen. IKEM-Mobilitätsreferent Matthias Hartwig erklärt in einem Interview im Rahmen des Projekts HEAT, wie die Technik auf die Straße kommt und welche Rolle ÖPNV-Unternehmen dabei übernehmen können.
Das folgende Interview fand am 24. Juli 2017 zum Projekt HEAT (Hamburg Electric Autonomous Transportation) im Themengebiet automatisiertes/autonomes Fahren statt. Gegenstand des Projektes ist die Entwicklung eines Konzeptes für vollautomatisierte elektrische Kleinbusse für den öffentlichen Personennahverkehr in der HafenCity Hamburg. Das Vorhaben schließt unmittelbar an das vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit und Bau (BMUB) geförderte Entwicklungsprojekt Optimized Transportation System Based on Self Driving Electric Vehicles (OTS 1.0) an. Wie bereits in OTS 1.0 übernimmt das Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) für HEAT die Begleitforschung im Bereich der Geschäftsmodelle sowie die Bearbeitung rechtlicher Fragestellungen.
Im Zuge der Vorbereitung des Projekts nahm Matthias Hartwig, Leiter des Bereichs Mobilität am IKEM, an einem Experteninterview mit Lennart Losekamm teil. Das Interview wurde Teil einer Masterarbeit zum Thema „Untersuchung von Geschäftsfeldern für den Einsatz autonomer Fahrzeuge im ÖPNV“. Mit Zustimmung von Herrn Losekamm veröffentlichen wir an dieser Stelle das redaktionell überarbeitete und leicht gekürzte Interview.
Was ist die Aufgabe des IKEM im Projekt „HEAT“? Welche Aufgabe übernehmen Sie persönlich?
In „HEAT“ übernimmt das IKEM gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) die Begleitforschung. Das DLR konzentriert sich dabei in erster Linie auf die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz des Einsatzes autonomer Fahrzeuge im ÖPNV. Wir konzentrieren uns auf die Themen Geschäftsmodelle und Recht und entwickeln die für diese Bereiche relevanten Fragestellungen im engen Austausch mit den Praxispartnern. Im Wesentlichen kann man sagen: die Praktiker spiegeln uns ihre Umsetzungs- und Anwendungsprobleme, und wir erarbeiten für diese Probleme Lösungsstrategien.
Ich leite bei IKEM die Abteilung Mobilität und werde bei HEAT die Projektleitung übernehmen sowie die inhaltliche juristische Arbeit betreuen.
Was qualifiziert Ihre Institution als Partner im Projekt HEAT?
Das IKEM ist momentan in insgesamt sechs Projekte mit elf Piloten zu autonomen Shuttles eingebunden. Daher wissen wir gerade im rechtlichen Bereich, aber auch beim Thema Strategien für die Kommunikation mit Behörden sowie bei der Begleitforschung zu Geschäftsmodellen, wovon wir reden.
Wie lange arbeiten Sie bereits an Projekten zu vollautomatisierten Fahrzeugen?
Erste Akquise-Überlegungen mit unseren Projektpartnern haben vor vier Jahren begonnen. Das erste Projekt war für uns vom IKEM dann ab Ende 2015 die Erstellung einer juristischen Machbarkeitsanalyse für das Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) zur Realisierung einer Teststrecke für hochautomatisiertes und autonomes Fahren auf dem EUREF-Campus und auf der Strecke bis zum Bahnhof Berlin-Südkreuz. Hier begleiteten wir das InnoZ auch in der Diskussion mit den Verkehrs- und Zulassungsbehörden und es wurde schnell klar, dass es bis zur Zulassung autonomer Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen noch ein weiter Weg sein würde. Nunmehr sind wir an fünf nationalen und europäischen Projekten zu Fragen des autonomen Fahrens mit verschiedensten Forschungsfragen beteiligt. Durch diese Breite sind wir zunehmend in der Lage, das Thema autonomes Fahren nicht nur in allen seinen vielfältigen juristischen Facetten zu beleuchten, sondern begleiten das Thema auch wirtschafts- und politikwissenschaftlich mit Fragen zu möglichen Einführungspfaden, Regulierungsansätzen, Betreiber- und Geschäftsmodellen und ihren möglichen Wirkungen auf den Verkehr von Morgen.
Wo liegen für Sie die größten gesellschaftlichen Potentiale durch die Einführung vollautomatisierter Fahrzeuge?
„Wenn man den Einführungspfad richtig wählt, werden vollautomatisierte Fahrzeuge der zentrale Schlüssel zur Umsetzung wichtiger verkehrspolitischer Visionen sein.“ |
Wenn man den Einführungspfad richtig wählt, werden vollautomatisierte Fahrzeuge der zentrale Schlüssel zur Umsetzung wichtiger verkehrspolitischer Visionen sein. Gerade im ÖPNV und im Bereich des Carsharings (Robo-Taxis) können sie zur Vision Zero beitragen, also zu dem Ziel, Straßen und Verkehrsmittel so sicher zu gestalten, dass keine Verkehrstoten und Schwerverletzten mehr auftreten. Denn autonome Fahrzeuge werden erst dann eine Zulassung bekommen, wenn von ihnen keine Gefahren mehr für Leib und Leben von Personen ausgehen. Deswegen ist die Entwicklung autonomer Fahrzeuge gewissermaßen ein Selbstläufer hin zur einem sichereren Straßenverkehr.
Weiterhin besteht auch im Bereich der Verkehrs- und Emissionsreduktion ein großes Potenzial. In den meisten derzeit in Deutschland laufenden Forschungsprojekten sind Shuttles als Elektrofahrzeuge ausgelegt. Kombiniert mit dem Potential, das sie für das Carsharing und im ÖPNV haben, folgt daraus eine große Chance für die Umsetzung umwelt- und klimapolitischer Ziele sowie bei der Einsparung knapper Ressourcen. Denn weniger Fahrzeuge auf den Straßen bedeuten neue stadtplanerische Chancen, mehr Platz in der Stadt, bessere Luft, weniger Verkehrslärm etc. Ob sich diese Potenziale auch realisieren lassen, hängt jedoch maßgeblich von den politischen Weichenstellungen ab.
Welcher Einführungspfad wäre denn aus Ihrer Sicht der richtige und welcher der falsche?
Der Einführungspfad ist stark vorgeprägt vom Recht. Dies betrifft nicht nur die Art und Weise der Einführung, sondern auch deren Zeitpunkt. Denn eine unbeschränkte Zulassung für den motorisierten Individualverkehr wird ein fahrerloses Fahrzeug aus meiner Sicht in den nächsten 20 bis 30 Jahren nicht kriegen können. Die Entwicklung von Recht und Technik muss parallel laufen und es ist noch ein sehr weiter Weg, bis fahrerlose Fahrzeuge auf alle möglichen unvorhergesehenen Situationen reagieren und auf ausreichende Daten zurückgreifen können, um sich unbeschränkt im Verkehr bewegen zu können.
Einige der vielfältigen noch bestehenden Probleme im Wechselspiel von Recht und Technik lassen sich für räumlich beschränkte Anwendungsfälle sicherlich in absehbarer Zeit lösen, während über nationale oder gar internationale Lösungsansätze – beispielsweise über den Bedarf und die Rolle von Leit- und Einsatzstellen, den Umgang mit Einsatzfahrzeugen etc. – bisher nicht einmal diskutiert wird. Die technische Serienreife für Anwendungen in lokal eng begrenzten Einsatzgebieten – etwa im ÖPNV auf einer speziellen Linie – sehe ich aber schon in drei bis fünf Jahren. Vorausgesetzt der politische Wille ist da. Das HEAT Projekt halte ich daher aufgrund seines klar auf die HafenCity begrenzten Testgebietes für einen sehr realistischen, wenngleich auch sehr ehrgeizigen Ansatz. Flankierend zu den technischen Möglichkeiten müssen wir Juristen uns den rechtlichen Gegenpart ausdenken, der anschließend der politischen Umsetzung bedarf.
Insofern zeichnet das Recht auch heute schon den inkrementellen Einführungspfad vor. Zunächst erfolgt der Einsatz in einem klar abgegrenzten Testfeld, beispielsweise einem (privaten) Betriebsgelände wie bei SIEMENS im Projekt OTS 1.0 an dem das IKEM ebenfalls beteiligt ist. Der dort angestrebte Anwendungsfall kann deutlich früher realisiert werden und ist auch genehmigungstechnisch deutlich leichter darzustellen als eine unbeschränkte Zulassung für öffentliche Straßen. In einem nächsten Schritt kann sich der mögliche Einsatzrahmen Stück für Stück in den Bereich des liniengebundenen ÖPNV in einfachen Verkehrsumgebungen ausbreiten. Da stellt die HafenCity, die als Testgebiet im HEAT-Projekt vornehmlich ausgewählt wurde, weil hier die Schaufesterwirkung am größten ist, bereits ein Paradebeispiel dar.
Anschließend sollte man sich dann Schritt für Schritt heranwagen können an immer komplexere Verkehrssituationen. Zwar kann ich die Entwicklung der Technik nicht vorhersagen, aber ich sehe einen vorläufigen Meilenstein in der Ermöglichung von Carsharing mit fahrerlosen Fahrzeugen in konkret definierten Geschäftsgebieten. Auch hier weiß ich zwar nicht, ob auf absehbare Zeit die Geschäftsgebiete erreicht werden können, die die Carsharer jetzt schon im städtischen Bereich besetzen, aber man kann natürlich in kleinen Geschäftsgebieten anfangen und diese Stück für Stück ausweiten. Voraussetzung ist, dass man für so ein Gebiet sicherstellen kann, dass alle Straßen abgefahren und digital kartographiert sind, sodass die autonomen Fahrzeuge sich in diesen zurechtfinden können. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass das autonome Fahrzeug mit allen wichtigen Verkehrssituationen im Gebiet spontan umgehen kann und ein Reaktionsplan für Situationen besteht, mit denen das Fahrzeug ohne menschliches Eingreifen eigentlich nicht umgehen kann. Unvorhergesehene Situationen können nie ganz ausgeschlossen werden, so dass spätestens hier auch über eine ständig einsatzbereite Leitstelle nachgedacht werden muss, die gegebenenfalls vor Ort eingreifen können muss. Das Problem an fahrerlosen Fahrzeugen ist also vor allem das Unvorhergesehene. Die Luftfahrt hat damit schon sehr lange Erfahrung. Für die Passagierluftfahrt reden wir von einem Automatisierungslevel, das übertragen auf die Automatisierungsstufen der Society of Automotive Engineers (SAE) für Straßenfahrzeuge irgendwo zwischen Level vier und fünf liegt. Darüber hinaus wird die Automatisierung aus meiner Sicht und auch aus der Sicht vieler Luftfahrtexperten niemals gehen.
Wo liegen für Sie die größten wirtschaftlichen Potentiale durch die Einführung vollautomatisierter Fahrzeuge?
„Je besser die ÖPNV-Unternehmen das Versprechen der Daseinsvorsorge unter Einbeziehung der neuen Möglichkeiten durch autonome Shuttles erfüllen desto mehr machen sie der individuellen Mobilität Konkurrenz.“ |
Die größten wirtschaftlichen Potentiale liegen aus den bereits geschilderten Gründen für mich erstmal im ÖPNV. Da wird aus meiner Sicht ein realistisches Zeitfenster von mindestens fünf bis zehn Jahren geschaffen, in dem ÖPNV-Anwendungen wie der Linienverkehr oder die Anbindung bis an die Haustür mit autonomen Shuttles aufgrund der sehr begrenzten Zulassungsmöglichkeiten realistisch erscheinen.
Je besser die ÖPNV-Unternehmen das Versprechen der Daseinsvorsorge unter Einbeziehung der neuen Möglichkeiten durch autonome Shuttles erfüllen – nämlich Mobilität zu jeder Zeit und für jede/n – desto mehr machen sie der individuellen Mobilität Konkurrenz. Das gilt insbesondere für Bereiche, in denen derzeit kein ÖPNV stattfindet. Wir arbeiten zum Beispiel auch in einem Projekt zum autonomen Fahren im ländlichen Bereich und der städtischen Peripherie, wobei es jeweils um die Anbindung der letzten Meile geht. Wenn man auf wichtigen Achsen weiterhin getakteten Verkehr mit Fahrer anbietet und die Dörfer mit autonomen Fahrzeugen auf Nebenstraßen anbindet, dann hat man plötzlich dort einen ÖPNV, wo vorher keiner stattgefunden hat.
Auch die Verdichtung des ÖPNV in den Städten bietet ein großes Potential, um verstärkt etwa mit Parkraumeinschränkungen oder Umweltzonen gegen die Nutzung des motorisierten Individualverkehrs vorzugehen. So könnte ein Wechselspiel entstehen, in dem sich der ÖPNV besser gegen den motorisierten Individualverkehr behaupten kann und gleichzeitig die Menschen auch stärker auf die Nutzung dieses verbesserten ÖPNV verwiesen werden. Das ist natürlich ein sehr optimistisches Szenario – denn eine gegenteilige Entwicklung ist ebenso möglich, wenn Politik und die ÖPNV-Unternehmen die Gunst der Stunde ungenutzt verstreichen lassen.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hindernisse bei der Einführung von vollautomatisierten Fahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr?
„Akzeptanz entsteht immer dann, wenn man Prozesse rechtlich und gesellschaftlich sinnvoll harmonisiert.“ |
Akzeptanzprobleme sehe ich am Ende sehr wenige. Denn Akzeptanz entsteht immer dann, wenn man Prozesse rechtlich und gesellschaftlich sinnvoll harmonisiert – und hier wird man immer an der einen oder anderen Stellschraube nachjustieren können.
Einen der Haupthinderungsgründe für den zügigen Praxiseinsatz der Shuttles sehe ich jedoch im Wechselspiel von Technik und Recht. Das derzeitige Recht ist ein großes Hindernis für die letzte Stufe der Automatisierung, nämlich für das fahrerlose Fahren. Denn hier steht das internationale Recht im Weg, das, so eindeutig wie man es überhaupt nur sagen kann, in Artikel 8 des Wiener Übereinkommens immer einen Fahrer vorsieht. Darüber wird man auch schwer hinwegkommen, denn in dem Moment, in dem das angegangen werden soll, muss man sich auf neue internationale Standards. Das wird ein sehr langwierigerer Prozess bei dem sich die Katze darüber hinaus auch noch in den Schwanz beißt. Denn nationale Rechtsordnungen sind einerseits durch das internationale Recht gehemmt, ehrgeizige Gesetze zum fahrerlosen Fahren zu erlassen. Das internationale Recht ist andererseits aber definitiv nicht der Ort, an dem Neuland betreten werden kann. Die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen, also das Gremium, das die UN/ECE-Regelungen erlässt, ist eben nur ein Gremium, das harmonisieren soll und kaum voranschreiten kann.
Was ist hier eine mögliche zeitnahe Lösung? Aus meiner Sicht wirft uns diese Problematik wieder auf den Einführungspfad zurück, den ich eben prognostiziert habe. Nämlich für den Einsatz autonomer Fahrzeuge in einem bestimmten, klar begrenzten Bereich Ausnahmen zu schaffen. Zwar kann und muss man sich darüber rechtlich streiten, aber ich würde hier erstmal sehr selbstbewusst vertreten: Wo kein Kläger da kein Richter. Anders aber natürlich, wenn man eine unbeschränkte nationale Zulassung vorsieht. Denn diese verstößt ohne Frage gegen das Wiener Übereinkommen. Stattdessen schwebt mir hier etwa ein eigenes Gesetz für autonome Shuttles mit einem Set von Experimentierklauseln und konkreten Ausnahmeregelungen für konkret definierte Testgebiete vor. Das Gesetz könnte im Wechselspiel von Recht, Technik und Akzeptanzfragen fortwährend evaluiert werden und letztlich die Blaupause für eine allgemeine Gesetzgebung für autonome Fahrzeuge bilden. Ein Bespiel für eine solche Experimentierklausel – wenn auch in einem anderen Rechtsbereich – findet sich etwa in § 119 EnWG, den das IKEM im Rahmen des Projekts „Schaufenster intelligente Energie – Digitale Agenda für die Energiewende“ mitentwickelt hat.
Ein weiterer Hinderungsgrund ist die fehlende Infrastruktur, die für flächendeckendes autonomes Fahren notwendig wäre. Wie beurteilen Sie dieses Manko?
Bei der Frage nach der ‚richtigen‘ Infrastruktur wäre ich mit einer Prognose sehr zurückhaltend. Denn das eigentlich faszinierende an der Entwicklung des fahrerlosen Fahrens ist der Umstand, dass so unglaublich viele technische Weichen noch gestellt werden müssen. Die Frage, ob wir eine andere Infrastruktur brauchen und welche, ist lediglich eine dieser zahlreichen Weichenstellungen. Den Ansatz von SIEMENS und IAV, die auf eine straßenseitige Sensor- und Kommunikationsinfrastruktur ergänzend zur Fahrzeugsensorik setzen, halte ich für sehr aussichtsreich. Ob es am Ende aber so kommt, dass auch in anderen Projekten mit dieser straßenseitigen Infrastruktur gearbeitet wird, ist noch unklar. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es hier parallele Entwicklungen geben wird. Für eine ÖPNV Anwendung bietet sich der Infrastrukturaufbau hingegen durchaus an und einen Finanzierungspfad gibt es auch schon. Denn genauso wie heute Straßenbahnschienen und Oberleitungen gebaut werden, könnte auch diese Infrastruktur aus den entsprechenden Finanzierungstöpfen des ÖPNV finanziert werden. Auch gibt es hierzu wirtschaftliche Anreize. So ist beispielsweise die Infrastruktur zum autonomen Fahren, wie sie im Projekt „HEAT“ eingesetzt werden soll, insbesondere unter Berücksichtigung der Skaleneffekte, deutlich günstiger, als alles was im Bereich Straßenbahn auf die Straße gebracht werden muss. Das gilt erst recht im Vergleich mit den enormen Summen, die zum Beispiel für den Neubau von U-Bahn-Linien aufgewendet werden müssen. Ein paar Sensoren an die Wand zu bauen ist im Vergleich voraussichtlich sehr viel günstig. Für eine begrenzte Linie im ÖPNV würde sich der Rückgriff auf die Infrastruktur also anbieten. Dass solche Infrastruktur flächendeckend in ganz Deutschland aufgebaut wird, sehe ich dagegen nicht, aber diese werden wir auch nicht brauchen, wenn lokale Anwendungen Erfolg haben. Wichtig ist, dass die Fahrzeuge in der Lage sein müssen, auch ohne die Infrastruktur auskommen zu können, wenn sie nicht zur Verfügung steht. Das wird von den Entwicklern meines Erachtens nach genauso gesehen
Nun noch eine Frage zu den hier teilweise bereits angesprochenen Rechtsnormen, dem Wiener Übereinkommen, den ECE-Regeln aber auch die EU-Richtlinie RL/70/311/EWG sowie der Straßenverkehrsordnung, dem Personenbeförderungsgesetz und den Haftungsregelungen auf Bundesebene. Müssen alle diese Regelungen angepasst werden, um eine Zulassung zu ermöglichen?
Alle diese Regeln müssen, wenn man autonomes Fahren großflächig einführen will, geändert werden. Das kommt aber wieder ganz klar auf den Einführungspfad an. Für eine Zulassung im Linienverkehr im ÖPNV in überschaubaren Gebieten, halte ich eine radikale Anpassung nicht für zwingend notwendig. Allerdings muss dann hier mit räumlich beschränkten Ausnahmen gearbeitet werden, die für den internationalen Verkehr klar erkennbar sein müssen. Dazu gehört jedoch auch Mut in der politischen Umsetzung, denn Gegenstimmen wird es immer genug geben. Wie bereits erläutert, werden die Regelungen des Völkerrechts aus meiner Sicht kaum zugunsten des fahrerlosen Fahrens angepasst werden, wenn nicht einzelne Staaten hier umfassende Erfahrungen vorweisen können und bereits nationale Regelungsbespiele für begrenzte Anwendungen der Technik vorliegen.
Es handelt sich um Fälle nach § 70 StVZO, wonach Landesbehörden Ausnahmen bei der Zulassung machen können?
„Wenn immer mehr ÖPNV-Unternehmen beginnen, die Potentiale des fahrerlosen Fahrens auch in der Praxis ausloten, ist irgendwann ein einheitlicher Rechtsrahmen erforderlich.“ |
Genau, der § 70 StVZO ermöglicht solche Ausnahmegenehmigungen für die Fahrzeugzulassung. Anstelle des hier normierten Regel-Ausnahme-Verhältnisses befürworte ich für die Zukunft jedoch eine klarere Institutionalisierung der Ausnahmegenehmigungen. Momentan ist es noch so, dass jede Behörde für sich in jedem Bundesland allein überlegt, wie sie die Ausnahmegenehmigung gestalten soll. Das kann definitiv keine Lösung sein. Denn wenn nun immer mehr ÖPNV-Unternehmen beginnen, die Potentiale des fahrerlosen Fahrens auch in der Praxis ausloten, ist irgendwann ein einheitlicher Rechtsrahmen erforderlich. Dieser Rechtsrahmen muss vorsichtige Ausnahmen vom Wiener Übereinkommen formulieren. Das ist natürlich durchaus ein Problem. Ausnahmen sind in dem Übereinkommen nicht ausdrücklich vorgesehen. Darüber, was hier möglich ist und wie solche Ausnahmen ausgestaltet werden können, ohne den internationalen Verkehr zu beeinträchtigen, muss die Rechtswissenschaft noch diskutieren. Jedoch bleibt es bei dem bereits beschriebenen Problem, dass sich das internationale Recht kaum ändern wird, ohne dass es nationale Pioniere gibt, die zeigen, wo Anwendungsmöglichkeiten bestehen und wie entsprechende rechtliche Regelungen aussehen könnten.
Glauben Sie denn, dass es erstmal mit Ausnahmeregelungen als Zwischenschritt funktionieren kann, bevor gewissermaßen ‚positive‘ nationale Regelung eingeführt werden?
Ausnahmeregelungen funktionieren zwar erst einmal, bleiben aber immer rechts- und planungsunsicher. Das ist für ÖPNV-Unternehmen katastrophal, wenn sie aus einer Experimentierphase vorsichtig in einen Regelbetrieb autonomer Shuttles übergehen wollen. Bereits die Frage, ob die vielen Ausnahmegenehmigungen verlängert werden können, ist für die teuren und teilweise aus Forschungsgeldern bestrittenen Investitionen ein großes Risiko. Es geht ja hier auch nicht nur um die Zulassung, sondern zugleich auch um die Genehmigung nach dem Personenbeförderungsgesetz. So sind beispielsweise Genehmigungen nach der so genannten Experimentierklausel in § 2 Abs. 7 PBefG derzeit auf vier Jahre begrenzt. Auch ist heute beispielsweise nicht klar, in welche Zulassungsklasse das Fahrzeug fällt und welche Fahrerlaubnis der zur Sicherheit immer noch anwesende Fahrer braucht. Diese Unsicherheiten in den rechtlichen Grundlagen des Betriebs sind für jede seriöse Planung im ÖPNV unakzeptabel. Das kann man jedoch aus meiner Sicht alles rechtlich lösen, ohne das Wiener Übereinkommen sofort zu ändern. Wie erläutert sollte man es mit Ausnahmen für kleine Bereiche und unter ganz klarem Hinweis auf die Ausnahmen vom internationalen Recht versuchen. So kann man dann erst einmal Erfahrungen sammeln. Auf dieser Grundlage kann dann die Anpassung des internationalen Rechts vorangetrieben werden, ohne die es auf lange Sicht für den Regelbetrieb nicht gehen wird.
Für den Einsatz vollautomatisierter Fahrzeuge gibt es unterschiedliche Nutzungskonzepte, zum Beispiel den Betrieb eines Shuttles auf privaten Straßen, einen Linienbetrieb nach Fahrplan, einen Linienbetrieb „On-Demand“ sowie ein On-Demand-Shuttle, das sich zeitlich und räumlich flexibel auf Nachfrage frei im Straßenverkehr bewegen kann. Sehen Sie noch weitere Nutzungskonzepte oder möchten Sie innerhalb dieser Kategorien noch Unterscheidungen vornehmen?
Ich denke, dass alle vier vorgestellten Nutzungskonzepte in dieser Reihenfolge eingeführt werden. Für den hier skizzierten Einführungspfad stellt Carsharing in einem zunehmend größer werdenden Geschäftsgebiet voraussichtlich die letzte Entwicklungsstufe dar. Das Fahrzeug muss dazu nicht nur über ausreichendes Kartenmaterial und sehr akkurate Daten über seine eigene Position für das gesamte Geschäftsgebiet verfügen, sondern auch einen technischen Stand haben, auf dem es alle verkehrlichen Herausforderungen im Geschäftsgebiet lösen kann. Das ist eine Sache, an die man sich Schritt für Schritt heranwagen kann.
Ich möchte jetzt noch mal kurz auf die Unterschiede in der rechtlichen Umsetzbarkeit dieser Nutzungskonzepte eingehen. Wir haben schon darüber gesprochen, dass eine räumliche Flexibilität schwieriger wird als ein liniengebundener Betrieb.
Die Anforderungen an das Fahrzeug werden von Schritt zu Schritt komplexer und auch die Unsicherheiten, mit denen das Fahrzeug arbeiten muss, werden größer. Damit wird aber auch die rechtliche Umsetzung der Anwendungsfälle anspruchsvoller. An dieser Komplexitätszunahme lässt sich meiner Ansicht nach auch die zeitliche Reihenfolge der Einführung ablesen: erst wird ein liniengebundener Betrieb genehmigungsfähig sein, zeitlich später ein nicht liniengebundener Betrieb.
Auf den privaten Straßen würde das Personenbeförderungsgesetz dann aber wohl trotzdem herangezogen werden müssen, richtig?
Hier ist zu differenzieren. Das Straßenrecht regelt eigentlich nur, wer eine Straße baut, wer sie instand hält und welchem grundlegenden Zweck sie gewidmet ist, nämlich dem Verkehr. Als öffentliches Sachenrecht bezieht sich Straßenrecht auch nur auf Straßen der öffentlichen Hand, bzw. als öffentliche Straßen gewidmete Wege. Privatstraßen unterfallen zwar nicht dem Straßenrecht, können jedoch dem Straßenverkehrsrecht unterliegen. Auch Zulassungsrecht und Fahrerlaubnisrecht sind Teile des Straßenverkehrsrechts und das Straßenverkehrsrecht ist Ordnungsrecht, mit dem man vornehmlich unbeteiligte Dritte vor Schaden schützen will. Deswegen gelten das Straßenverkehrsrecht und damit auch das Zulassungsrecht überall da, wo unbeteiligte Dritte ohne engere Bindung an den Eigentümer oder an den Betrieb auf das Gelände können. Das bedeutet, dass das Straßenverkehrsrecht auch auf Privatstraßen Anwendung findet, die von jedem Fußgänger oder Radfahrer unter relativ freiem Zugang genutzt werden können, beispielsweise auf dem EUREF-Campus in Berlin. Dieser ist zwar eine Privatstraße, trotzdem gilt hier die Straßenverkehrsordnung. Daher brauchen Fahrzeuge hier im Grunde auch eine Zulassung und Fahrer eine Fahrerlaubnis. Derselbe Gedanke ist im Grundsatz auf die Genehmigungen nach dem Personenbeförderungsgesetz übertragbar, obgleich die Abgrenzung hier im Detail etwas ausführlicher in der sogenannten Freistellungsverordnung geregelt ist.
Für den Betrieb von vollautomatisierten Busflotten kommen grundsätzlich unterschiedliche Akteure in Frage. Zu diesen zählen neben Verkehrsbetrieben auch Carsharing-Anbieter, Automobilhersteller oder IT-Unternehmen. Welche Akteure kommen als Betreiber für autonome Fahrzeugflotten aus Ihrer Sicht insbesondere in Frage?
„ÖPNV-Unternehmen haben zwar einen Positionierungsvorteil in der Anfangsphase der Einführung, aber auch andere Akteure sind vorstellbar“ |
Die Chance können natürlich viele ergreifen. Bis die Carsharer autonome Fahrzeugflotten einführen, dauert es aber sicherlich noch. Die ÖPNV-Unternehmen haben zwar einen definitiven Positionierungsvorteil in der Anfangsphase der Einführung, aber ich könnte mir auch Akteure vorstellen, die man bisher noch gar nicht auf der Rechnung hat. Dazu gehört für mich zum Beispiel ein Wohnungsbauunternehmen, das ein ganzes Wohnquartier hat und seinen Bewohnern auch On-Demand Verkehr zur Anbindung an den nächsten Knotenpunkt zur Verfügung stellen möchte. Solche Dinge sind jetzt mit fahrerlosen Fahrzeugen voraussichtlich einfacher umsetzbar, weil diese gewissermaßen zur Immobilie hinzudefiniert werden können. Das gilt natürlich genauso für betriebliche Anwendungen. Wenn ich meine Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bis jetzt zur Bushaltestelle transportieren wollte, brauchte ich immer mindestens einen Fahrer. Ein autonomes Fahrzeug für den Pendelverkehr bereitzustellen ist, auf lange Sicht viel unkomplizierter. So besteht auf jeden Fall das Potential, dass ganz viele Kleinanbieter Aufgaben übernehmen, die man früher nur für ÖPNV-Unternehmen als lösbar angesehen hätte.
Sehen Sie denn autonome Busflotten als Ergänzung oder Substitution vom ÖPNV, wie es ihn heute gibt?
Zunächst einmal werden autonome Busflotten dem ÖPNV als Ergänzung und Zubringer dienen. Wenn man in die fernere Zukunft sieht, in der auch Carsharing in begrenzten Geschäftsgebieten eingesetzt wird, können fahrerlose Shuttles durchaus mal eine Konkurrenz zum ÖPNV werden. Berücksichtigt man aber den voraussichtlich sehr langen Einführungspfad hierzu, haben alle beteiligten Unternehmen viel Zeit, sich darauf einzustellen. Wenn die ÖPNV-Unternehmen rechtzeitig ihre Position definieren, kann das Rennen auch zu hundert Prozent anders herum ausgehen. Sie könnten ihren ÖPNV zum Beispiel mit örtlich begrenzten On-Demand-Verkehren, die immer ein bisschen weiterreichen, detailliert ergänzen. Dann muss sich der Konsument irgendwann fragen, ob er überhaupt noch ein Carsharing Fahrzeug braucht. Da eine Prognose zu treffen, wer das Rennen macht, ist sehr schwierig.
Ist es klug, der First-Mover zu sein?
First-Mover zu sein ist in erster Linie natürlich immer gefährlich. Den ersten Schritt macht man vor allem aus Prestige-Gründen, da immer auch andere von der sehr teuren Entwicklungsarbeit profitieren. Dies betrifft ja nicht nur die technische, sondern auch die organisatorische und rechtliche Seite. Das sieht man auch an Projekten wie „HEAT“, an denen wir im Moment noch als juristische Experten beteiligt sind. Irgendwann ist den Projektpartnern und Behörden klar, wie es rechtlich laufen muss, sodass wir dann nicht mehr zur Erlangung einer Ausnahmegenehmigung benötigt werden. Das gilt ebenso für die technische und organisatorische Durchführung: Hier können sich First Mover zwar einen Erfahrungsvorsprung sichern, abkupfern ist jedoch immer kostengünstiger. Gleichwohl müssen sich die ÖPNV-Unternehmen jetzt alle möglichst schnell überlegen, wie sie autonome Fahrzeuge einsetzen wollen, um in den Genuss des Vorteils, den ich skizziert habe, zu kommen. First-Mover zu sein ist vor allem keine einfache Rolle. Dennoch sollten definitiv viele ÖPNV-Unternehmen mindestens zu den „Second-Movern“ gehören, um das einmalige Momentum für den ÖPNV nicht zu verpassen.
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Matthias Hartwig
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